Zwischen Medizin und Kunst: Tübingens älteste Studierende

An der Tübinger Universität studieren nicht nur junge, sondern auch ältere Menschen. Das Presseamt hat sich auf die Suche nach den zwei ältesten Studentinnen und dem ältesten Studenten gemacht.

Obwohl Ingelene Dziuba dieses Jahr ihr Magisterstudium der Rhetorik und Kunstgeschichte abgeschlossen hat, würde sie gerne auch weiterhin Seminare an der Universität Tübingen besuchen. Da sie vor einigen Jahren nach Stuttgart gezogen ist, kommt sie nur noch selten in die Neckarstadt. Die mittlerweile 74jährige hatte eigentlich vorgehabt, nach ihrem Abitur Medizin zu studieren. Nach der Ausbildung zur radiologischen Fachassistentin kam ihr allerdings der Krieg dazwischen. Danach war sie gezwungen, sich durch Fortbildungen im Bereich der Atomforschung, Röntgendiagnostik und Strahlentherapie auf dem neuesten Stand zu halten, um den beruflichen Anschluß nicht zu verlieren.

Aber nach der Pensionierung wandte sich Ingelene Dziuba den Gebieten zu, die neben dem Beruf zu kurz gekommen waren. Sie wählte als Hauptfach Rhetorik, nicht nur aus journalistischem Interesse, sondern auch wegen ihrer medizinisch-biologischen Vorbildung. Denn "ohne Sprache ist kein Denken möglich, eine klare Zielsetzung fördert das Wohlbefinden". Außerdem hoffte sie, durch das Studium einen besseren Zugang zur Nachkriegsliteratur zu bekommen. Ihr erstes Nebenfach Kunstgeschichte machte es möglich, Kunstgegenstände zu bewundern und sie auch benennen zu können. Und das zweite Nebenfach Geschichte sollte ihr die fehlenden Querverbindungen zwischen erlebter Geschichte einerseits und Kunst und Literatur andererseits aufzeigen. Frau Dziuba stellte fest, da▀ sie nicht die einzige ältere Frau war, die ein Studium begann oder fortsetzte.

Der mit 77 Jahren älteste männliche Studierende ist chinesischer Staatsangehöriger und war Professor an der Tong-ji-Universität in Shanghai. Prof. em. Neng-Run Wei ist Experte auf dem Gebiet der Trommelfelltransplantation und arbeitet im Forschungslabor für experimentelle Phoniatrie und Pädaudiologie der Abteilung für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen der Universität Tübingen. Nach seiner Pensionierung holte ihn der damalige Leiter der HNO-Klinik Prof. Dietrich Plester 1984 nach Tübingen.

Seine Studienzeit in China fiel in die Zeit des Krieges. In Tübingen will er einen Teil seiner Jugend nachholen. Da Prof. Wei nach Wegen sucht, die europäische Kunst mit der chinesischen zu verknüpfen, entschied er sich für das Studium der Kunstgeschichte. Sinologie wählte er, um das China-Bild der Deutschen kennenzulernen. Das Lehrangebot in Tübingen findet er sehr informativ, und anders als in China könne man hier "lebendiger und freier" studieren. Seine einzige Kritik bezieht sich auf den Sprachunterricht. Prof Wei bemängelt, daß die Lehrveranstaltungen in der Sinologie nicht auf chinesisch abgehalten werden. Chinesische Germanistik-Studierende lernen dagegen früh, über Goethe auf deutsch zu debattieren.

Der Gro▀vater Weis war Meister der Kalligraphie gewesen und Neng-Run Wei selbst malt in seiner freien Zeit. Dabei verbindet er chinesische Motive mit dem Malen der Schriftzeichen. In Deutschland wurden seine Werke bereits in drei Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert, erstmals 1989 in der Volkshochschule Tübingen.

Dr. Gertrud Harsch ist die zweitälteste Studentin an der Universität Tübingen. Auch sie hatte den Krieg in ihrer Jugend erlebt. Sowohl das später absolvierte volkswirtschaftliche Studium als auch die darauf folgende Berufstätigkeit erlaubten ihr nicht, sich mit schöngeistigen Fächern wie Philosophie, Kunstgeschichte oder Musik zu beschäftigen. Durch das Studium der Theologie, das sie nach ihrer Pensionierung begonnen hat, kommt die 73jährige leichter über den Tod von ihr nahestehenden Menschen hinweg. Einerseits werde man mit den alten Kulturen aus den Anfängen der Menschheit vertraut, andererseits gebe die Bibel auch Antworten auf Fragen, die das Leben nach dem Tod betreffen. Frau Dr. Harsch bemängelt, da▀ unsere heutige Gesellschaft Tatsachen, die mit dem Älterwerden zusammenhängen, oft verdränge. Die theologischen Lehrveranstaltungen und gerade auch die Diskussionen mit Jüngeren findet sie sehr anregend.

Die Adressen von Frau Dziuba, Prof. Wei und Dr. Harsch sowie weitere Informationen können Sie im Presseamt erhalten.

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